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Empfehlungen zur stationären Behandlung Jugendlicher

Ein Positionspapier der Kommission Jugendmedizin des Bündnisses Kinder- und

Jugendgesundheit

PDF der Stellungnahme

Einleitung

Die Muster- Weiterbildungsordnung von 2003 regelt in einer speziellen Übergangsbestimmung: „Kammerangehörige, die die Facharztbezeichnung Kinderheilkunde besitzen, sind berechtigt, stattdessen die Facharztbezeichnung Kinder- und Jugendmedizin zu führen“. Eine ganze Reihe jugendspezifischer Aspekte wurden bei der Definition der Weiterbildungsinhalte und damit in die Prüfungsordnung integriert.

Es stellt sich daher die Frage, ob fast 20 Jahre nach der Änderung der Musterweiterbildungsordnung der „Auftrag“ in der Versorgung der Jugendlichen angekommen ist. Das Bündnis für Kinder- und Jugendgesundheit (damals noch die DAKJ) hatte zur Beantwortung dieser Fragestellung eine Jugendkommission mit der Untersuchung dieser Fragestellung beauftragt und ist 2021 zum Fazit gekommen, dass die Etablierung der Jugendmedizin bisher nur teilweise und nicht flächendeckend erfolgt ist [1], auch wenn sie formal in der neue Musterweiterbildungsordung inhaltlich stärker berücksichtigt wird [2].

Nachdem im Schulkinderalter die Inanspruchnahme in den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin sinkt, steigt sie im Jugendalter wieder. Die durchschnittliche stationäre Verweildauer bei Jugendlichen liegt bei ca. 8 Tagen mit einer großen Varianz. 7,7% aller Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren nehmen mindestens 1x/Jahr einen stationären Krankenhausaufenthalt wahr, dies betrifft insbesondere weibliche Jugendliche (6,4 vs. 9,0 %). Die häufigsten Diagnosen in dieser Altersgruppe sind Depressionen (3,4 Fälle /1000), Bauch- und Beckenschmerzen (3,2 Fälle /1000), Alkoholmissbrauch (2,9 Fälle /1000), Gehirnerschütterung (2,6 Fälle /1000) und Appendizitis (2,4 Fälle /1000). Damit stellen diese Patienten einen signifikanten Anteil von ca. 25% aller Kinder und Jugendlichen mit stationären Aufnahmen dar [1]. Die Verweildauer ist in Anbetracht der zahlreichen psychosozial- und somatoform bedingten Krankheiten eher kurz. Jugendliche Bauchschmerzen oder Alkoholintoxikation werden vermutlich häufig nur somatisch behandelt, ohne das zugrundeliegende psychosoziale Probleme identifiziert werden. Eine große Rolle spielen u.a. die psychosomatischen/somatoformen Erkrankungen. Dabei gilt es, bio-psycho-soziale Prozesse und Wechselwirkungen zu beachten. Die Analyse der Jugendkommission mittels eines Online-Surveys bei 86 leitenden Ärzten von Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin (bei einer Rücklaufquote von 23%), führte zu folgenden Kernergebnissen [1]:

  • 92,3% der Kliniken haben sich in „Klinik für Kinder- und Jugendmedizin“ umbenannt.
  • Eine Adoleszenten- Station haben nur 6,4%, speziell auf Adoleszente ausgerichtete Patientenzimmer haben nur 32,5% der aller Kinder- und Jugendkliniken
  • Eine Klinikschule / Unterricht für Schüler bieten 58,4% der Kliniken an.
  • Eine strukturierte Weiterbildung in der Jugendmedizin bieten 36,5%, Hospitationsmöglichkeiten für Ärzte in der Weiterbildung 41,6% der Kliniken an.
  • 21,1% der Kliniken beschäftigt Pflegepersonal, welchen auf adoleszente Patienten spezialisiert ist.
  • Auf Adoleszente spezialisiertes psychosoziales Personal beschäftigen 52,6% der Kliniken.
  • Tagesklinische oder tagesstationäre Leistungen für Adoleszenten bieten 43,4% der Kliniken an
  • Transitionsprozesse in die Erwachsenenmedizin bieten 58,4 % der Kliniken an.
  • Die ltd. Ärzte geben der Jugendmedizin in ihren Kliniken folgende Schulnoten: Sehr gut 5%, gut 35%, befriedigend 33%, ausreichend 20%, mangelhaft 6%, ungenügend 1%.

Bei ungefähr 40% der beteiligten Kliniken für Kinder und Jugendliche sind also einige Aspekte der jugendmedizinischen Versorgung bereits gegeben.

Sehr viele Erkrankungen des Jugendalters sind komplex. Grundsätzlich unkomplizierte Erkrankungen werden durch das Auftreten in der Pubertät und damit in einer Phase der Bestimmung des Lebensweges zu komplexen Krankheitsbildern mit erheblichen Wechselwirkungen zwischen der somatischen, psychischen und sozialen Ebene. Der Einsatz ambulanter Ressourcen reicht nicht immer aus. Aus diesen Erkrankungsmustern resultiert in der Regel ein erheblicher personeller und zeitlicher Aufwand, der im klassischen DRG- System nur über den Einsatz von OPS- Ziffern den erforderlichen Ressourceneinsatz refinanzierbar macht.

Es wurden daher Empfehlungen entwickelt, wie die Integration der Jugendmedizin in die stationäre Krankenversorgung weiter verbessert werden kann. Diese haben prinzipiell auch Gültigkeit für kinderchirurgische Fachabteilungen.

Sieben Empfehlungen zur Fortentwicklung der stationären Jugendmedizin in Deutschland

Empfehlung 1: Berücksichtigung der Komplexität jugendmedizinischer Fragestellungen

Unkomplizierte akute Erkrankungen in der Jugendmedizin ohne Gefahr einer Chronifizierung und ohne signifikanten Bezug zur Lebensumwelt des Patienten werden wie in allen Altersgruppen einer Akutdiagnostik und Akuttherapie zugeführt. In dieser Altersgruppe besteht jedoch ein hoher Anteil von chronischen bzw. zur Chronifizierung neigenden Erkrankungen, die eines komplexen diagnostischen und therapeutischen Settings bedürfen. Eine große Rolle spielen u. a. die psychosomatischen/ somatoformen Erkrankungen. Diese haben häufig ihre Ursache in der Lebensumwelt des Patienten. Die KIGGS-Studie zeigte, dass bei vielen Jugendlichen Übergewicht, Adipositas, Psychische Auffälligkeiten und ADHS vorliegen. Bei den psychischen Auffälligkeiten ist die Inzidenz stark vom sozialen Status abhängig [3].

Empfehlung 2: Personelle Voraussetzungen einer stationären Jugendmedizin

In den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin sollten Ärztinnen und Ärzte mit jugendmedizinischer Kompetenz, die in der Facharztausbildung (z.B. durch Hospitationen in Kliniken mit einem hohen Anteil an Jugendmedizin) sowie durch Weiterbildung erworben wurde, tätig sein. Grundlage für die Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt ist die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer. In der derzeit gültigen Fassung von 2018 ist die Jugendmedizin erstmals als Kapitel explizit aufgeführt [4]. Die neue Prüfungsordnung wird erst nach Umsetzung in den Landesärztekammern relevant werden. Eine Aufnahme jugendmedizinischer Themen in die Prüfungen erscheint daher wünschenswert.

Die neue generalistische Pflegeausbildung ermöglicht grundsätzlich eine Vertiefung in der Pädiatrie und ein damit einhergehendes Wahlrecht der Spezialisierung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, hier sollte auch die Bezugswissenschaft der Kinder- und Jugendmedizin stärker in der Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist eine Information über die Ausübung des Wahlrechtes zur Spezialisierung in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sicherzustellen, durch regionale Netzwerke und Kooperationen (z.B. mit einem SPZ) kann eine bedarfsgerechte Versorgung sichergestellt bzw. verbessert werden [4]. Für die stationäre Sozialpädiatrie ist darüber hinaus die nicht-Berücksichtigung der pädagogischen Fachkräfte im Rahmen des PPUGs ein zentrales Problem, da dies zu einer vermeidbaren, z.T. existentiellen Belastung der betroffenen Einrichtungen führt.

Empfehlung 3: Räumliche und strukturelle Voraussetzungen der stationären Jugendmedizin

Es besteht der Bedarf einer Festlegung, welche Mindestausstattung räumlich für eine jugendmedizinische Versorgung in den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin notwendig ist. Jugendmedizinische Stationen werden nur in einzelnen, größeren Kinderkliniken möglich sein (z.B. AYA-Stationen (Adolescences and Young Adults) in der Kinderonkologie). Adoleszentenzimmer für eine räumliche Spezialisierung für Jugendmedizin sollten aber in allen Kliniken für Kinder und Jugendmedizin schrittweise eingerichtet werden. Diese müssen auf die Bedürfnisse Jugendlicher eingerichtet sein und damit jugend- und nicht kleinkindgerecht sein: 1-2 Betten und Nasszelle, Farbgebung nicht für Kleinkinder – sondern modern und klar, positiv wirkende Bilder und Ausstattung, High-Speed-WLAN, Fernseher, (Computer-)Arbeitsplatz für Rückzug, aber auch Hausaufgaben und Fernunterricht, Gemeinsamer Aufenthaltsraum und Treffpunkt mit Spielen, Büchern, Spielekonsole, Großbildfernseher und weitere jugendgerechter Ausstattung.

Empfehlung 4: Pädagogische Voraussetzungen für eine stationäre Jugendmedizin- Schule und Unterricht

Die Behandlung von akuten Erkrankungen bei einer Aufenthaltsdauer bis zu einer Woche bedarf grundsätzlich nicht unbedingt einer schulischen Betreuung. Bei Intervallbehandlungen z. B. chronischer Erkrankungen kann sich ein Schulangebot aber auch bei Kurzzeitaufenthalten als sinnvoll erweisen. Die Schule ist manchmal ein Ko-Faktor des behandelten Krankheitsbildes, manchmal sogar die Ursache der zu behandelnden Erkrankung. Gerade durch die Covid19-Pandemie hat sich Fernunterricht immer mehr etabliert. Es sollte versucht werden über Tablets Schüler am Unterricht in der Schule teilhaben zu lassen und dies ggf. durch die Klinikschule zu unterstützen.

Empfehlung 5: Fort- und Weiterbildung

Der Ausschuss Jugendmedizin des BVKJ bietet aktuell eine 6-teilige jugendmedizinische Modulreihe mit einem Abschlusszertifikat zu allen Themen der MWBO an. In den letzten 20 Jahren waren Fortbildungsveranstaltungen mit dem Bundeskongress „Jugendmedizin“ in Weimar bei jährlich wechselnden Schwerpunkten vorausgegangen. Der BVKJ, die DGKJ, die DGSPJ haben sich verpflichtet das Thema Jugendmedizin auf ihren Fortbildungen im Laufe der nächsten Jahre regelmäßig anzubieten.

Schwieriger dürfte sich die Fortbildung des Pflegepersonals, der Psychologen, der Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, aber auch von allen anderen Berufsgruppen der multiprofessionellen Teams gestalten. Hier gibt es derzeit nur wenig spezifische Angebote.

Daher stellen Hospitationen für einige Mitarbeiter als Multiplikatoren eine Möglichkeit dar. In erster Linie kommen dafür jugendmedizinische -, sozialpädiatrische -, psychosomatische -, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilungen in Frage.

Empfehlung 6: Finanzierung der stationären Jugendmedizin

Eine besondere Herausforderung für die Abrechnung stationärer Behandlung von Jugendlichen stellen die von der Kindermedizin abweichenden Diagnose-Cluster dar. Jugendliche werden zu einer stationären Behandlung relativ selten wegen Infektionskrankheiten oder klassischen Kinderkrankheiten aufgenommen. Neben chirurgischen Diagnosen dominieren stationäre Behandlungsindikationen, die aus den verschiedensten chronischen Krankheiten resultieren und den verschiedenen pädiatrischen Subspezialitäten zuzuordnen sind. Eine große Anzahl von stationären Behandlungen resultiert aus altersspezifischen sozialpädiatrischen, neuropädiatrischen und pädiatrisch- psychosomatischen Erkrankungen. Es wurden seit 2005 zahlreiche Mechanismen im DRG-System geschaffen, wie die OPS-Ziffer 9-403 geschaffen.

Die für die Behandlung sozialpädiatrischer, neuropädiatrischer und pädiatrisch-psychosomatischer Patienten geschaffenen DRGs B46Z, U41Z und U43Z werden als unbewertete DRGs individuell verhandelt. Sie werden erreicht über die Abrechnung der OPS 9-403.0 bis 9-403.y. Allen zehn OPS- Ziffern ist ein unterschiedliches Behandlungsspektrum hinterlegt. Die DRGs werden individuell verhandelt, zumeist als Tagespauschale, manchmal aber auch als Fallpauschale. Die derzeitigen eingesetzten und verhandelten Tagessätze liegen inzwischen deutlich über 400 Euro bis 600 Euro, so dass eine kostendeckende Finanzierung eines multiprofessionellen Modells im stationären Setting bei entsprechenden Verhandlungsergebnissen der Tagespauschale möglich ist.  Zukünftig sollte zur Finanzierung, insbesondere von der in der Erwachsenenmedizin nicht vorgesehener Infrastruktur und Leistungen, ein Zuschlag für spezifische jugendmedizinische Leistungen kalkuliert und verhandelt werden. Erstaunlicherweise wird die Jugendmedizin bei den Zuschlägen des neuen §4a des Krankenhausentgeltgesetz für die Pädiatrie durch die Altersbeschränkung zwischen 28 Tagen und 16 Jahren teilweise benachteiligt [4]. Diese Empfehlung richtet sich an die politischen Verantwortlichen: Jugendmedizin muss auch stationär finanziell abbildbar sein.

Empfehlung 7: Die stationäre Jugendmedizin im Netzwerk der verschiedenen Versorgungsebenen in der Pädiatrie

Teilstationäre und tagesklinische Angebote

Ein wichtiger Aspekt in der Jugendmedizin ist die Schaffung von teilstationären und tagesklinischen Angeboten. Diese sind erfreulicherweise schon in viele Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin möglich. Sie führen häufig gerade bei Jugendlichen zu einer besseren, akzeptierten Behandlung und auch zu einer intensiveren Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Jugendmedizin.

Sehr sinnvoll kann eine Kooperation mit sozialpädiatrischen Zentren, die aber bisher ausschließlich einen ambulanten Auftrag haben, oder der Kinder- und Jugendpsychiatrien sein, weil sich für den Patienten dadurch sinnvolle Synergien ergeben.

Auf Jugendstationen, die vor allem chronisch kranke Jugendliche betreuen, sollte die Planung der Transition in die Erwachsenenmedizin auch im stationären Bereich berücksichtigt werden. Bei einzelnen Diagnosegruppen (z.B. Onkologie) können auch Transitionsstationen eine sinnvolle Einrichtung darstellen.

Fazit

Die Jugendmedizin ist Bestandteil des Fachgebietes Kinder- und Jugendmedizin und in Teilen auch der der Kinderchirugie. Die Implementierung des Fachs in der Weiterbildung war ein erster wichtiger Schritt zur Etablierung einer jugendmedizinischen Versorgung in der Routine. Eine schrittweise Umsetzung der in diesem Artikel genannten Empfehlungen wird helfen, die Jugendmedizin in due klinischen Routineversorgung noch besser zu integrieren.,

 

Stellungnahme der Kommission Jugendmedizin des Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V.

Mitglieder: Dr. med. Soha Asgari (Berlin), PD Dr. med. Verena Ellerkamp (Tübingen), Christian Güttel (Schwerin), Dr. med. Markus Koch (Oberjoch), Dr. med. Kirsten Kubini (Erfstadt ), Dr. med. Esther Nitsche (Lübeck), Prof. Dr. med. Lars Pape (Essen, federführend), Dr. med. Mechthild Pies (Frankfurt/M.), Prof. Dr. med. Ronald G. Schmid (Altötting, Kommissionssprecher), Dr. med. Gabriele Trost-Brinkhues (Aachen)

 

Korrespondenzadresse: 
Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V.
Chausseestr. 128/129, 10115 Berlin
Tel.: 030.4000588-0, Fax.: 030.4000588-88
e-Mail: kontakt@buendnis-kjg.de
Internet: www.buendnis-kjg.de

 

Referenzen

  1. [4] Ronald G Schmid, Christoph Kretschmar, Helmut Hollmann Das Altöttinger Papier 3.0: Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit in den sozialpädiatrischen Zentren: Strukturqualität, Diagnostik und Therapie. Qualität in der Sozialpädiatrie 1:1-51
  2. [5] Krankenhausentgeltgesetz – KHEntgG, § 4a Ermittlung eines Erlösvolumens für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, § 4a KHEntgG – Einzelnorm (gesetze-im-internet.de), letzter Zugriff 27.2.2023