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Pädiatrische Gesundheitsversorgung von minderjährigen Flüchtlingen und Asylbewerbern

Kurz-Stellungnahme der Kommission für Globale Kindergesundheit der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ); Stand: 14. November 2015

Vorbemerkung

Die anhaltenden Flüchtlingsströme nach Deutschland stellen das gesamte soziale und medizinische Versorgungssystem in unserem Land vor enorme Herausforderungen. Kinder und Jugendärzte1 können und sollen alle Neuankömmlinge im Kindes- und Jugendalter gut versorgen. Die pädiatrischen Fachgesellschaften müssen sich ebenso rasch auf die neuen Verhältnisse einstellen. Jeder einzelne Kollege ist aufgerufen, sich bei professioneller und humanitärer Hilfe einzusetzen.

Asyl ist ein Menschenrecht. Den Grundsatz zur ärztlichen Versorgung von minderjährigen Flüchtlingen gibt der Artikel 24 [Gesundheitsvorsorge] der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 vor. In diesem Artikel erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an. Minderjährige Flüchtlinge, die in vieler Hinsicht besonders vulnerabel und schutzbedürftig sind, sind demnach auf dem gleichen medizinischen Niveau zu versorgen wie alle deutschen Kinder und Jugendlichen. Das gilt für Akutversorgung, Maßnahmen der medizinischen Prävention und chronische Erkrankungen.

Diese Stellungnahme zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter bezieht sich auf neu ankommende Flüchtlinge und auch auf Asylbewerber-Familien, die sich längere Zeit in Wohnheimen aufhalten. Viele Menschen sind gegenwärtig zwischen Erstaufnahmeeinrichtungen, Übergangswohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften unterwegs, die oft einer kindgerechten Umgebung entbehren.

Die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung in den verschiedenen Einrichtungen

Unabhängig von der Registrierung, die oft Tage bis Wochen in Anspruch nimmt, ist eine medizinische Versorgung der akuten Probleme in den großen Aufnahmeunterkünften notwendig. Die Basisuntersuchung, die eine „Triage“-Funktion hat, soll erkrankte Flüchtlinge, die einer sofortigen Therapie bedürfen, identifizieren. Sie kann eine gründliche pädiatrische Untersuchung keinesfalls ersetzen. Krankenhäuser müssen akut kranke Flüchtlinge auch ohne Dokumentation, Registrierung oder Krankenschein behandeln.

Die Notversorgung ist in großem Maßstab angelegt und wird gegenwärtig durch freiwillige Ärzte, auch Pädiater gewährleistet. Punktuell werden Impfkampagnen durchgeführt. Die Dienstplanerstellung und Arzneimittelversorgung wird in vielen Städten spontan oder in neu gegründeten Hilfsprojekten organisiert. Mit Teamarbeit unter Beteiligung von nicht- ärztlichem Personal (Schwestern, Pfleger, Para Medics, Sozialarbeiter) werden gute Erfahrungen gemacht. Das ehrenamtliche Engagement von allen Seiten ist eindrucksvoll. Damit es nicht zur Ermüdung und zur Unterversorgung kommt, müssen die Verantwortlichen bald für nachhaltige Lösungen und dauerhafte Strukturen mit finanziellem Rückhalt und Versicherungsschutz sorgen.

Bei medizinischem Erstkontakt ist für jeden Flüchtling eine möglichst bundesweit standardisierte medizinische Dokumentation anzulegen. Jeder geimpfte Flüchtling muss einen internationalen Impfausweis erhalten. Diese Unterlagen sollen den Flüchtling auf seinem Weg begleiten, auch, um unnötige Doppeluntersuchungen, Doppel-Blutabnahmen oder Mehrfachimpfungen zu verhindern.

Eine Beschleunigung der Registrierung ist nötig, damit Flüchtlinge aus dem Status ohne Rechte und ohne finanzielle Absicherung, die auch die ärztliche Versorgung beeinträchtigt, früher herauskommen. Durch die gesetzlich geplante Zuteilung einer Versichertenkarte, wie sie schon in einigen Bundesländern eingeführt ist, kann eine Entbürokratisierung der Versorgung und ein besserer Zugang zu Überweisungen, Versorgung chronischer Erkrankungen, Hilfsmitteln und Rehabilitation erreicht werden. Durch die rasche Ausstellung einer Versichertenkarte wird eine Gleichstellung erreicht, die auch die Aufnahme durch die Arzt-Praxen wesentlich erleichtern wird.

Kinder und Jugendliche müssen früh durch Pädiater gründlich untersucht und versorgt werden

Der Facharzt-Standard für pädiatrische Untersuchungen bedarf keiner weiteren Spezifizierung. Es ist anzustreben, dass eine Versorgung der Kinder und Jugendlichen innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge und Asylbewerber in allen Phasen von Kinder- und Jugendärzten geleistet wird. Wenn sich viele Pädiater freiwillig an der Versorgung in den Erstaufnahme-Einrichtungen beteiligen, kann erreicht werden, dass alle Kinder und Jugendliche durch Pädiater versorgt werden können. Je früher eine gründliche Erst-Untersuchung erfolgt, desto eher wird es möglich sein, behandlungsbedürftige Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Verzögerte Diagnosen und Therapien führen bei Migranten nachweislich zu hohen Folgekosten.

Asylbewerber in dezentralen Unterkünften sollen baldmöglichst in die Regelversorgung integriert werden

Wenn Asylbewerber dezentrale Gemeinschaftsunterkünfte in kleineren Städten erreichen, ändern sich die Versorgungsbedingungen. Gegenwärtig fehlen personelle Ressourcen zur sozialen und ärztlichen Versorgung in den Unterkünften. Für die medizinische Versorgung zeichnet sich gegenwärtig kein Modell von dauerhaft realisierbaren fachärztlichen Sprechstunden in den Übergangswohnheimen ab.

Von den Familien wird erwartet, dass sie die ärztlichen Praxen selbständig ansteuern. Ohne entsprechende Sprachmittlung bekommen sie aber keine Termine oder werden wegen Überlastung der Arztpraxen abgewiesen. Notfalldienste werden dann durch Asylbewerber-Familien mit Anliegen und Beschwerden überhäuft, die auch regulär in den Praxen oder durch Sanitätsdienste versorgt werden könnten. Einige Beschwerden und leichte Verletzungen können durch einen niedrigschwelligen nichtärztlichen Sanitätsdienst in den Unterkünften versorgt werden. Auch dafür sollten Ressourcen geschaffen werden.

In Einzelfällen bieten Kinder- und Jugendärzte jetzt schon in verschiedene Sprachen übersetzte Erste-Hilfe-Kurse in Übergangswohnheimen an. Dabei werden Unfallverhütung, Hygiene, Ernährung, Impfungen, Vorsorgen und der Umgang mit Verletzungen und Krankheiten im deutschen Gesundheitswesen besprochen. Derartige Kurse vor Ort erleichtern die Integration in die Regelversorgung.

Im Praxisalltag ist eine gleichgestellte pädiatrische Betreuung mit allen Leistungen der Prävention wie Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen wesentlich leichter durchzuführen als in Notfallambulanzen. Die Integrierung von Asylbewerbern und Migranten in die pädiatrische Sprechstunde und in die stationäre Versorgung ist kein neues Gebiet für Kinder- und Jugendärzte und erfordert keine neuen Standards. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund stellen schon jetzt einen großen Anteil der Patienten. Der BVKJ und die DGKJ beschäftigen sich gegenwärtig intensiv mit dieser Thematik der pädiatrischen Migrantenmedizin.

Pädiater in den Praxen und Kinderkliniken sind aber auf den massiven Ansturm von Flüchtlingsfamilien nicht vorbereitet. Die Bereitschaft zur ambulanten oder stationären Aufnahme von Flüchtlingskindern ist unterschiedlich. Aufgrund sprachlicher Probleme ist die Aufarbeitung der Anamnese meist zeitintensiv. Die Zuwendung für die Neuankömmlinge fordert das gesamte Team. Die Probleme der Organisation der Terminsprechstunde sind im multikulturellen Zusammenhang eine besondere Aufgabe für das Praxismanagement. Neu angekommene Familien benötigen am Beginn Hilfestellung beim Auffinden einer Praxis, beim Erlernen der Termintreue und bei der Übersetzung ihrer Anliegen. Flüchtlingsfamilien müssen an den geregelten Praxisalltag herangeführt werden. Eine gezielte Verbesserung der interkulturellen Kompetenz des ärztlichen und nicht-ärztlichen Personals kann die Integrierung in die Versorgung erleichtern. Die Fachgesellschaften sollten die Thematik der interkulturellen Kompetenz bei ihren Kongressen und Weiterbildungsthemen schwerpunktmäßig behandeln.

Impfungen sind möglichst früh durchzuführen

Nach aktuellen Vorgaben sollen alle minderjährigen Flüchtlinge den vollen Impfschutz des deutschen STIKO-Impfkalenders erhalten. Der Standard für Aufklärungsgespräche und Einwilligungen soll dem der pädiatrischen Praxen entsprechen. Wenn kein Dolmetscher zur Verfügung steht, können in vielen Sprachen übersetzte Anamnese- und Aufklärungsbögen helfen. Eine Blutabnahme vor der Durchführung von Impfungen ist in der Regel nicht angezeigt. Die vielfältigen Gelegenheiten zu einem Ergänzen oder Auffrischen der Impfungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bei frühen oder späteren Arztkontakten oder Krankenhausaufenthalten müssen genutzt werden. Nur so können Epidemien in den Unterkünften, z.B. mit Masern oder Varizellen, vermieden werden, die dann nur durch massenhafte Riegelungsimpfungen einzudämmen sind.

Von Flüchtlingen ausgehende ansteckende Infektionen, die eine Gefahr für die Bevölkerung oder das medizinische Personal darstellen, werden insgesamt überschätzt. Eher sind die Flüchtlinge selbst durch Infektionen, die sie sich auf der Reise oder in Massenunterkünften zuziehen können, gefährdet. Per Gesetz ist ein Tuberkulose-Screening vorgesehen. Ein darüber hinaus gehendes generelles ungezieltes Infektionsscreening ohne Symptomatik ist bei der ärztlichen Untersuchung nicht berechtigt. Die Dokumentation und Weiterleitung bereits erhobener Befunde ist zwingend.

Für die stationäre Abklärung von unklaren Infektionserkrankungen mit und ohne Fieber wird auf Empfehlungen der DGPI und der DGKJ verwiesen, die jeweils die Herkunft und die Symptomatik berücksichtigen. Auch hier sind ungezielte Infektionsscreenings weniger hilfreich.

Traumatisierung frühzeitig erkennen und einer adäquaten Behandlung zuführen

Ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen ist durch Kriegserlebnisse und Gewalt traumatisiert und leidet unter Schlafstörungen, Ängsten, Verhaltensstörungen oder manifester posttraumatischer Belastung. Sprachliche Barrieren und fehlende Ressourcen der psychologischen und kinderpsychiatrischen Dienste erschweren eine adäquate individuelle Behandlung. Weitere Traumatisierungen durch Übergriffe, oder gewaltsame Handlungen Dritter sind zu verhindern. Sehr beengte Wohnverhältnisse sind der ruhevollen Aufarbeitung der Traumata hinderlich. Kinder und Jugendliche sind gegenwärtig in allen Einrichtungen unzureichend betreut. Gemeinsames Spielen in der Gruppe in der Unterkunft, Gruppentherapie, frühzeitige Integrierung in Tageseinrichtungen, Kindergärten und Schulen sowie früher Spracherwerb können die Verarbeitung der Traumata erleichtern, ohne eine Einzelfallbearbeitung manifester Traumata allerdings ersetzen zu können. Hier muss dringend eine personelle Aufstockung erfolgen.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen besonders geschützt werden Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) stellen eine besonders gefährdete Gruppe unter den Flüchtlingen dar, da sie keinen Schutz und keine Unterstützung durch die Familie oder Verwandte erfahren. Das Jugendamt ist seit 2005 zur Inobhutnahme der unbegleiteten Minderjährigen verpflichtet. Es muss ihnen unmittelbar ein Vormund zur Seite gestellt werden, und sie haben ab dem Zeitpunkt der Inobhutnahme Anspruch auf eine gleichgestellte medizinische Versorgung.

Die Altersschätzung bei UMF stellt eine besondere Herausforderung dar, die nicht in den ärztlichen Bereich fällt. Radiologische Untersuchungen zum Zwecke einer Altersbestimmung sind unzuverlässig und unethisch. Auf Stellungnahmen des Ärztetages und internationale Erklärungen, die diese Untersuchungen ablehnen, wird verwiesen.

Die Kinder und Jugendärzte sind in der Lage, die Neuankömmlinge gut zu versorgen und sich rasch auf den großen Ansturm der Flüchtlinge einzustellen. Die Aktionsmöglichkeiten sind vielfältig. Interkulturelles Training für Krankenschwestern, MFA und Ärzte kann die Versorgung der Flüchtlinge und Asylbewerber verbessern. Freie Zeit und Engagement ist gefragt zur Beteiligung an Freiwilligendiensten oder Erste-Hilfe-Elternkursen in den Wohnheimen. Die Praxen müssen sich für die Neuankömmlinge öffnen. Die pädiatrischen Fachgesellschaften werden sich weiter schwerpunktmäßig in den nächsten Monaten der pädiatrischen Migrantenmedizin widmen.

Eine ausführlichere Stellungnahme der DAKJ liegt vor, und eine Aktualisierung dieser Stellungnahme in 2016 ist vorgesehen, da sich die Gegebenheiten gegenwärtig rasch ändern. Ausführliche Erörterung von Rechten, gesetzlichen Grundlagen oder infektiologische Erörterungen sind nicht Gegenstand dieser gemeinsamen Stellungnahme. Zu den infektiologischen Fragestellungen wird auf die aktuelle Empfehlung von DGPI/GTP/BVKJ vom Oktober 2015 verwiesen.
 

1 Bei Benutzung männlicher Bezeichnungen ist stets die weibliche Form mit gemeint.

Zuletzt geändert am: 24.11.2015 um 10:59