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Exposition von gestillten Säuglingen mit perfluorierten Tensiden über die Muttermilch

Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin

Vorbemerkung

In den letzten Jahren sind in mehreren Orten in Deutschland erhöhte Belastungen mit perfluorierten Tensiden (PFT) bekannt geworden. Beispiele sind die Möhnetalsperre, wo aufgrund belasteter Klärschlämme PFT-Belastungen des Wassers bekannt wurden; belastete Grundwässer in der Nachbarschaft von Düsseldorf; landwirtschaftlich genutzte Gebiete am Oberrhein, wo PFT-haltige Papierschlämme zur Düngung ausgebracht worden waren, und der Landkreis Altötting, verursacht durch Emissionen aus einem Chemiewerk. Hier liegen die PFOA-Konzentrationen im Trinkwasser inzwischen dank der Aufbereitung durch Aktivkohle um ein Mehrfaches unterhalb des seit 2016 gültigen Leitwertes von 0,1 µg/Liter {1}.

PFT sind bei belasteten Frauen in der Plazenta, im Nabelschnurblut und in der Milch nachweisbar, ebenso bei Kindern im Blut. Die Belastung von vollgestillten Säuglingen und von Embryonen und Feten in der Frühschwangerschaft erscheint bedenklich. Schwangere Frauen und stillende Mütter bedürfen einer sachbezogenen und ausgewogenen Beratung.

 Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin gibt zur Belastung von Frauen und gestillten Kindern mit perfluorierten Tensiden (PFT) folgende Stellungnahme ab:

Besonders Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und stillende Mütter sowie Säuglinge und Kleinkinder und Eltern sollen konsequent vor erhöhten Belastungen durch PFT geschützt werden. Das kann durch Maßnahmen der Trinkwasserreinigung geschehen, für die die Kommunen und die Wasserversorger verantwortlich sind, oder bei fortdauernder Belastung durch Verwendung von Trinkwasser aus anderen Regionen.

In belasteten Regionen kann die Exposition bei vollgestillten Kindern weit über den von der Europäischen Lebensmittelsicherheits-Agentur (EFSA) empfohlenen akzeptablen Grenzen der wöchentlichen Aufnahme liegen. Es ist jedoch nicht klar, ob Säuglinge dadurch gesundheitlich gefährdet werden können. Es gibt daher keine wissenschaftlich belegte Grundlage, Müttern vom Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten abzuraten.

Die Bevölkerung in belasteten Regionen soll qualifiziert über bekannte Fakten und Ungewissheiten informiert werden. Frauen mit Kinderwunsch, Schwangeren und Eltern von Säuglingen und Kleinkindern soll eine qualifizierte individuelle Beratung, z. B. durch niedergelassene oder am Gesundheitsamt tätige Kinder- und Jugendärzte, angeboten werden. Hierzu sind den beratenden Personen die vorhandenen Informationen über die regional auftretenden PFT-Belastungen und die Risikobewertung zugänglich zu machen.

Die Bestimmung von PFT im Plasma exponierter Mütter und Kinder sowie in der Muttermilch sind für die individuelle Beratung wenig hilfreich, da keine belastbaren Daten über die Beziehung zwischen der Höhe von Plasma- und Milchkonzentrationen und dem Auftreten nachteiliger Effekte vorliegen. Sind solche Messwerte vorhanden, sollte man besorgten Eltern beratend beistehen und ihnen erklären, dass solche Werte für sich genommen keine Begründung für das Abstillen des Kindes liefern können. 

Angesichts der dokumentierten Toxizität verschiedener Vertreter der perfluorierten Tenside sollen weitere Einträge in die Umwelt herabgesetzt und, soweit möglich, vollständig vermieden werden. In den von erhöhter Trinkwasserbelastung betroffenen Wasserwerken sollen die Gehalte durch konsequente Anwendung geeigneter Maßnahmen wie Filteranlagen, Zumischung unbelasteten Wassers oder Auswahl anderer unbelasteter Quellen vermindert werden.

Begründung:

Perfluorierte Tenside: weitverbreitete Chemikalien

Perfluorierte Karbonsäuren wurden in erhöhter Konzentration in mindestens drei Orten in Deutschland im Trinkwasser nachgewiesen {2,3,4}.

Perfluorierte Tenside sind Industriechemikalien, die u.a. als Ausgangsmaterial zur Herstellung von schmutz-, fett- und wasserabweisenden Oberflächen von Textilien und Verpackungen dienen und neben vielen weiteren Verwendungen als Bestandteile von Teflon®, Gore-Tex® und Feuerlöschmitteln eingesetzt werden. PFT sind chemisch stabil, lösen sich sowohl in Wasser als auch Fett und verteilen sich daher leicht in der Umwelt. Von dort aus gelangen sie in die Nahrungskette. Hinreichendes toxikologisches Wissen gibt es über Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) und Perfluoroctansäure (PFOA); deshalb gelten sie bei der Beurteilung der Toxizität als „Leitsubstanzen“. Seit 2006 ist sind Produktion und Anwendung von PFOS in Europa weitgehend eingeschränkt, PFOA darf noch bis 2020 verwendet werden. Andere PFT-Derivate, über deren Toxikologie weniger bekannt ist, werden allerdings weiter verwendet. {5}

Nahrung und Trinkwasser sind die wichtigen Quellen für die Aufnahme beim Menschen. PFOS und PFOA werden über den Magen-Darm-Trakt nahezu vollständig resorbiert und nicht weiter metabolisiert. Die biologische Halbwertzeit im menschlichen Körper beträgt 3-5 Jahre.

Toxikologie

PFOA und PFOS haben nach heutigem Wissensstand kein direktes erbgutveränderndes Potential. Chromosomenveränderungen traten in Tierversuchen nur bei zellschädigenden (also extrem hohen) Konzentrationen auf. Eine Gentoxizität wurde bisher nicht beobachtet.

PFOS und PFOA fördern im Tierversuch die Bildung von Leberadenomen sowie von Tumoren in bestimmten Zellen des Rattenhodens und des Pankreas, allerdings erst bei PFT-Konzentrationen, die um mehrere Größenordnungen über den im menschlichen Blut gemessenen lagen. Unklar ist aufgrund dieser Konzentrationsunterschiede, ob diese Beobachtungen auf andere Spezies und den Menschen übertragbar sind. Umgekehrt weist der menschliche Organismus mit 3-5 Jahren eine wesentlich längere Verweildauer perfluorierter Tenside auf als die Versuchstiere (Stunden oder Tage). Eine abschließende Risikobewertung ist daher nicht möglich.

Die amerikanische Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency (EPA) und die International Agency on Research on Cancer (IARC) stufen PFOA als möglicherweise kanzerogen ein (Group 2B). {6}

Ferner wurde über einen dämpfenden Einfluss von PFT (insbesondere PFOS) auf die Immunantwort von Kindern nach einer Impfung gegen Tetanus und Diphtherie  berichtet. {7}

Referenz- und Grenzwerte für den Menschen.

Die HBM-Kommission (Humanes Biomonitoring – Kommission des Umweltbundesamtes) gibt für Deutschland folgende Median- und Referenzwerte (95. Perzentile) im Serum an {8,9}:

PFOS / PFOA: Median bei Erwachsenen 10 / 5 µg/L,  95. Perzentile bei Männern 25 /10 µg/L, 95. Perzentile bei Frauen 20 /10 µg/L; 95. Perzentile bei Kindern unter 10 Jahren 10 /10 µg/L.

Bei Kindern aus Duisburg und Bochum fanden sich im Blutplasma {10}: PFOS 4.7 bzw. 3.3 µg/L, PFOA 6.0 und 3.6 µg/L. Im Landkreis Altötting lag der Median des PFOA-Gehaltes bei 47 Kindern bei ca. 20 µg/L, bei Erwachsenen bei rund 25 µg/L, also um etwa das Fünffache über den Medianwerten. {11} Die HBM-Kommission hat den HBM I-Wert (unterhalb dessen mit keiner gesundheitlichen Beeinträchtigung zu rechnen ist) mit 2 µg/L Blutplasma festgelegt. Wegen der unklaren Datenlage war ein HBM-II-Wert (oberhalb dessen gesundheitliche Gefährdung bestehen kann und deshalb Maßnahmen erforderlich sind) zunächst nicht bestimmt worden {12,13}; kürzlich hat die Kommission auch HBM-II-Werte im Blutplasma mitgeteilt: für Frauen in gebärfähigem Alter PFOA 5 ng/ml, PFOS 10 ng/ml, für übrige Bevölkerungsgruppen PFOA 10 ng/ml, PFOA 20 ng/ml {14}.

Die European Food Safety Agency (EFSA) hat 2019 als tolerierbare wöchentliche Aufnahmemengen (TWI) für PFOA 6 ng pro kg Körpergewicht und für PFOS 13 ng pro kg Körpergewicht festgelegt. EFSA {15}.

Diverse PFOA-Bestimmungen in Muttermilchproben aus Deutschland und aus anderen Ländern haben Konzentrationen im Bereich von 200 bis 400 ng/l ergeben, daneben sind aber auch viel niedrigere Werte gemessen worden{16,17,18}.

Belastung von gestillten Säuglingen.

Ein 5 kg schwerer Säugling nimmt bei einer Muttermilchbelastung von 400 ng/l und einer Trinkmenge von 500 ml 40 ng/kg/Tag (280 ng/kg/Woche) PFOA auf. Bei individuell, insbesondere beruflich hoch belasteten Müttern könnte die Aufnahme sogar noch wesentlich höher liegen. Die Aufnahmen von PFOA (und anderen PFT) mit der Muttermilch durch gestillte Säuglinge können somit um das Zehn- bis Hundertfache über dem TWI-Wert der EFSA liegen.

Die American Academy of Pediatrics hält die Vorteile des Stillens für bedeutender als die potentiellen Risiken durch die Zufuhr von PFT{19}.

Ebenso sagt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zum Stillen, es sehe „bei einer internen Exposition im Hintergrundbereich keinen Grund, Kinder nicht entsprechend den Empfehlungen lange zu stillen“{11}.Das widerspricht der im gleichen Atemzug gemachten BfR-Empfehlung, die von der EFSA vorgeschlagenen „TWI-Werte zu verwenden, um das gesundheitliche Risiko einer Aufnahme von PFOS und PFOA mit Lebensmitteln zu bewerten.“ Es könne seine „Aussage aus dem Jahr 2008, dass ein gesundheitliches Risiko … durch die derzeitige Exposition gegenüber PFOS und PFOA über Lebensmittel unwahrscheinlich ist, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten.“ {11} In diesem Kontext wird argumentiert, dass die erhöhte Belastung in der Stillperiode nur vorübergehend sei und dass Plasmawerte von gestillten und ungestillten Kindern sich später angleichen würden.

In der BfR-Verlautbarung ist keine Aussage dazu enthalten, wie bei Expositionen oberhalb des „Hintergrundbereiches“ zu verfahren ist. Auch seitens der Nationalen Stillkommission gibt es dazu keine Empfehlungen.

Kinderumwelt in der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin

(Prof. Dr. Karl-Ernst von Mühlendahl, Dr. Thomas Lob-Corzilius), Prof. Dr. Berthold Koletzko,

Prof. Dr. Bernd Mühlbauer

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär
Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V.
Chausseestr. 128/129; 10115 Berlin;
Tel.: 030.4000588-0; Fax.: 030.4000588-88
e-Mail: kontakt@dakj.de; Internet: www.dakj.de

Hier die Stellungnahme als PDF.

 

 Literatur:

1} Herr C, Schober W, Völkel W, Liebl B. Umweltkontamination durch Freisetzung von Perfluoroctansäure (PFOA) im Landkrei Altötting – Gesundheitliche Bewertung nach Einführung der HBM-II-Werte für PFOA. Umweltmed Hygiene Arbeitsmed 25, 83-87, 2020

2 } Landratsamt Altötting. Perfluoroktansäure (PFOA)-Humanbiomonitoring von Säuglingen und Kleinkindern im Landkreis Altötting. https://www.lra-aoe.de/pfoa; http://www.lgl.bayernd.de/kleinkinderuntersuchung 

3} Ruhrverband. Perfluorierte Tenside. https://www.ruhrverband.de/wissen/forschung-entwicklung/spurenstoffe/pft/

4} Umweltamt der Stadt Düsseldorf. Grundwasserverunreinigungen Hilden/Benrath mit CKW und PFT https://www.duesseldorf.de/umweltamt/umweltthemen-von-a-z/altlast/grundwassersanierung/gw-verunreinigungen-hilden-benrath.html

5} www.allum.de, dort weitere Details und Literaturzitate

6} IARC Monographs on the Evaluation of Carcinogenic Risks to Humans Volume 110 https://publications.iarc.fr/547 (zuletzt aufgerufen im August 2019)

7} Grandjean J et al. Serum Vaccine Antibody Concentrations in Children Exposed to Perfluorinated Compoundsl JAMA 307, 91-397, 2012. doi 10.1001/jama.2011.2034
2012

10} Wilhelm et al. (2015): Perfluoroalkyl acids in children and their mothers. Int. J. Hyg.  Env. Health 218 S. 645 – 655.

11}Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). www.bfr.bund.de Mitteilungen Nr.027/2018 und 042/2018 und 032/2019 doi 10.17590/20190821-105231

12} HBM-Kommission des Umweltbundesamtes. Referenzwerte für Perfluorooctansäure (PFOA) und Perfluorooctansulfonsäure PPFOA) im Blutplasma. Bundesgesundheitsbl 52:878-88, 2009 doi 10.1007/s00103-009-0899-0

13} HBM-Kommission des Umweltbundesamtes. HBM-I-Werte für Perfluorooctansäure (PFOA) und Perfluorooctansulfonsäure PPFOA) im Blutplasma. Bundesgesundheitsbl 59, 1362-1363, 2016. doi 10.1007/s00103-016-2434-4

14} HBM-Kommission des Umweltbundesamtes. HBM-II-Werte für Perfluorooctansäure (PFOA) und Perfluorooctansulfonsäure (PFOA) in Blutplasma – Stellungnahme der Kommission Human-Biomonitoring des Bundesumweltamtes. Bundesgesundheitsbl 63:356-360, 2020. https://doi.org/10.1007/s00103-020-03101-2

15} European Food Safety Authority (EFSA). Risk to human health related to the presence of perfluorooctane sulfonic acid and perfluorooctanoic acid in food. EFSA Journal 16, 5194 , 2018

16} Fromme H et al. Vorkommen und gesundheitliche Bedeutung von persistenten organischen Substanzen und Phthalaten in der Muttermilch. Gesundheitswesen 73, e27-e43, 2011. https://eref.thieme.de/10.1055/s-0030-1268452

17} Völkel et al. Perfluorooctane sulphonate (PFOS) and perfluorooctanoic acid (PFOA) in human breast milk: results of a pilot study. Intern J Hygiene Environm Health 211, 440-446, 2008. htpps://doi.org/10.10.1016/j.ijheh.2007.07.024

18} Liu J et al. The occurrence of perfluorinated alkyl compounds in human milk from different regions of China. Environment International 5, 433-438, 2010. htpps://doi.org/10.1016/j.envint.2010.03.004

19} Pediatric Environmental Health, Hrsg. American Academy of Pediatrics, Ruth Etzel, 4. Aufl., 2019, S. 634