Die Folgen des Pandemiegeschehens und der damit verbundenen Maßnahmen für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zeichnen sich schon jetzt besonders deutlich ab und werden durch verschiedene Studien bestätigt. Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen aller Kinder- und Jugendärzte aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), Kliniken und Abteilungen für Kinder und Jugendliche, niedergelassener Praxis, Sozialpädiatrischen Zentren und Medizinischen Versorgungszentren, dem entgegenzuwirken und Weichen für die Zukunft zu stellen. Im ÖGD wird für Belange der Kinder und Jugendlichen die Fach- und Funktionsstruktur Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD), auch Kinder- und Jugendärztlicher Dienst (KJÄD) genannt, vorgehalten. In Abhängigkeit von Gesundheitsdienstgesetzen der Länder und von kommunalen Prioritätensetzungen sind diese unterschiedlich ausgestattet und ausgestaltet. Das Fachpersonal aus dem KJGD/KJÄD hat maßgeblich pandemiebezogene Aufgaben erfüllt, wie verschiedene Befragungen zeigen, die Kernaufgaben mussten weitestgehend zurückgestellt werden.
Im Beschluss zum Leitbild für einen modernen ÖGD hat die Gesundheitsministerkonferenz bekräftigt, dass die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste (KJGD/KJÄD) bevölkerungsbezogene Aufgaben für Kinder und Jugendliche im Gemeinwesen vor Ort im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung, als kommunale Daseinsfürsorge wahrzunehmen haben. Der Öffentliche Gesundheitsdienst hat im Rahmen eigener Zuständigkeit die Aufgabe, den Gesundheitszustand einzelner Bevölkerungsgruppen in den Blick zu nehmen, im Sinne eines Monitorings zu beobachten und im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten vor Ort für die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen und Präventionsmaßnahmen in Kooperation mit anderen Sorge zu tragen. Teilweise wurde dem ÖGD hierzu auch eine Steuerungsverantwortung übertragen.
Die Versorgung der Kinder und Jugendlichen im Sinne eines „Public Health vor Ort“ ist gerade jetzt und mit Sicherheit perspektivisch besonders erforderlich. Durch Beachtung aller im Leitbild beschrieben Aufgabenfelder des KJGD/KJÄD einschließlich des Infektionsschutzes und Krisenmanagements können bei entsprechender Zuteilung von Ressourcen die Lebens- und Teilhabechancen von Kindern und deren Familien in den Lebenswelten nachhaltig verbessert werden.
Die enge Zusammenarbeit mit Einrichtungen der gesundheitlichen, sozialen und pädagogischen Versorgung und Betreuung auf der kommunalen Ebene ist ein Wesensmarkmal der Arbeit des KJGD/KJÄD. Darin besteht eine Herausforderung, aber gleichzeitig eine besondere Chance für die perspektivische Aufarbeitung der Pandemiefolgen und die Verbesserung der Ausgangslage aus dem Gelernten heraus. Allianzen und Verantwortungsgemeinschaften lassen sich auf der kommunalen Ebene leichter bilden als über komplexe und föderale Systeme hinweg und verwirklichen eine Umsetzung der Gesundheitsförderung und Prävention in allen Politikbereichen (health in all policies); Sie können, gut koordiniert und mit klaren Rollenverteilungen, wirkungsvoll sein und Effekte zeitnah und direkt spürbar werden lassen. Sie erhöhen die Selbstwirksamkeit von örtlichen Akteuren und der Kommune selbst, nicht zuletzt in Verbindung mit bürgerschaftlichem und ehrenamtlichem Engagement. Erläuternde Beispiele dazu finden sich im Begründungstext. Sozialpädiatrische Expertise ist für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen elementar und muss durch den KJGD/KJÄD sichergestellt und verfügbar sein.
Das Bundesministerium für Gesundheit, die Gesundheitsministerkonferenz der Länder und der Deutsche Städte- und Landkreistag sowie die Mitglieder und Gäste des kürzlich eingerichteten Beirates zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zur Umsetzung des Pakts für den ÖGD wurden aufgerufen, die besonderen Rahmenbedingungen aktiv mitzugestalten.
Vor dem geschilderten Hintergrund appelliert die DAKJ für eine vorrangige Berücksichtigung der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste im ÖGD. Kinder und Jugendliche sind mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe von dem sozialen Gradienten der Gesundheitschancen betroffen. Zuständigkeit und Aufgaben des KJGD/KJÄD setzen genau dort an, wo in den Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien zum einen sozialkompensatorisch eingewirkt werden kann. Darüber hinaus können Lern- und Verbesserungsprozesse in den Kommunen und in Zusammenhang mit den zuständigen Landesbehörden zielorientiert vorangebracht werden.
Im Sinne einer generationenübergreifenden Bevölkerungsgesundheit empfehlen wir dringend, den Pakt für den ÖGD für nachhaltige Investitionen in die Strukturen und in die multiprofessionelle personelle Ausstattung des KJGD/KJÄD zu nutzen.
Begründung und Erläuterung:
Die ersten Lebensjahre bis zum Schulbeginn entscheiden über die lebenslangen Chancen von gesundheitlicher Entwicklung bzw. Gesundheit sowie über frühe Bildungsteilhabe, Schulbildung bzw. Ausbildung und die Resilienz bezüglich psychosozialer Belastungen. Die Pandemie hat die unterschiedlichen Startbedingungen und Bildungschancen, die Benachteiligung für eine gesunde Entwicklung weiter verschärft und offensichtlich werden lassen, hier besteht unmittelbarer und zusätzlicher Handlungsbedarf. Die Ergebnisse der in allen Bundesländern stattfindenden Schuleingangsuntersuchungen spiegeln durch das regionale Gesundheitsmonitoring die aktuelle Entwicklung: 1/4 bis 1/3 aller Kinder sind psychosozial nicht ausreichend versorgt und häufig in mehreren Entwicklungsbereichen benachteiligt. Diese Bevölkerungsgruppe von Kindern mit ihren Eltern gilt es in den Ressourcen zu stärken und zu eigener Handlungs- und Gesundheitskompetenz zu begleiten. Der Kinderschutz nimmt dabei eine besondere Rolle ein. Für das Jugendalter zeigen die niedrigen Teilnahmeraten (unter 50%) an der J1 und die Ergebnisse der KIGGS Studie die besonderen Probleme in der gesundheitlichen Versorgung psychosozial benachteiligter Jugendlicher.
Die modernen Steuerungsmaßnahmen des ÖGD (Public Health Aktion Cycle, datengestützte Interventionen) sind hier einzusetzen. In Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und den Bildungseinrichtungen kommt dem KJGD/KJÄD als Teil des gesamten Gesundheitssystems eine vernetzende, teils auch koordinierende Rolle im Sinne einer Gemeinwesen-orientierten sozialpädiatrischen Betreuung der Kinder zu. Prävention und Gesundheitsförderung im Setting von Kindertagespflege, Kindertagesstätten und Schulen haben eine besondere Bedeutung erlangt, hierzu bedarf es der Kooperation mit anderen Fachbereichen und den Partnern im Präventionsgesetz wie auch der Nationalen Gesundheitskonferenz.
Zur sachgerechten Durchführung der Aufgaben vor Ort wird ein multiprofessionelles Team im ÖGD
für Kinder und Jugendliche benötigt! Auf die notwendige, zeitgemäße technische Ausstattung (EDV, altersdifferenzierte Untersuchungs- und Screeningmaterialien, etc.) sei an dieser Stelle ebenfalls hingewiesen. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in einer Kommune, der Anteil der Kinder im SGB II Bezug, der zuwandernden Minderjährigen sowie der Anteil der Kinder bei Einschulung aus bildungsfernen Familien sollten den Personal- und Finanzrahmen zur zwingend notwendigen Aufgabenerfüllung für den KJGD/KJÄD vor Ort bestimmen. Aus Kostengründen in den letzten Jahren reduzierte Aufgaben sind wieder aufzunehmen. Dazu gehören insbesondere zielgruppenbezogene Begleitung, nachrangige/subsidiäre Versorgung, aufsuchende Betreuung, Gesundheitsförderung, Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen in den Gemeinschaftseinrichtungen in enger Zusammenarbeit mit diesen. Anspruchsvolle sozialpädiatrische Aufgaben müssen Wertschätzung und eine Gratifikation erfahren, die den Tarifen im Gesundheitsversorgungssystem angeglichen ist.
Ziel ist eine nachhaltige Stärkung des KJGD/KJÄD. Er hat vielfältige Aufgaben aus dem Gesamtspektrum des ÖGD als „Public Health vor Ort“ für Kinder und Jugendliche zu erfüllen, die sich von Schwangerschaft bis zum Übergang in die Ausbildung erstrecken und erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheits- und Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen haben. Prävention, Gesundheitsförderung, sozialkompensatorische Versorgung, Gesundheitsschutz und Kinderschutz sind bei diesen Aufgaben eng miteinander verknüpft.
Exemplarisch seien folgende Aufgaben und Handlungsfelder benannt:
- Frühe Hilfen, besondere Begleitung von Kindern von (-9)/0-3 Jahren einschließlich der Eltern
- Betreuung und Begleitung von Kindertagesstätten / Familienzentren mit benachteiligten Kindern und deren Eltern, zielgruppenorientierte Untersuchungen zur Initiierung von Präventionsmaßnahmen, Frühförderung und/oder Eingliederungshilfen
- Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten, den Kinder- und Jugendkliniken, den Sozialpädiatrischen Zentren, den Kinder- und Jugendpsychiatern, …
- Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern, auch im Kontext früher Hilfen
- Flächendeckende ärztliche Einschulungsuntersuchung mit dem Fokus auf Schulbereitschaft und schulischen Interventionsbedarf, entsprechende Gesundheitsberichterstattung mit der Benennung von Handlungsfeldern und –bedarfen, Zusammenarbeit mit Jugendhilfe, Schule und Sozialplanung.
- Untersuchung von „Seiteneinsteigenden“ in das deutsche Schulsystem. (In Analogie zum Schulbeginn sind Untersuchungen von älteren Kindern und Jugendlichen vor Aufnahme in deutsche Schulen vorgesehen)
- Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen, insbesondere in Gemeinschaftseinrichtungen
- Schulärztliche Versorgung im Kindergarten- und Jugendalter, (erneuter) Aufbau der notwendigen zielgruppenorientierten Betreuung/Untersuchung,
- Beratung von Eltern in Gemeinschaftseinrichtungen, Gesundheitsaufklärung für sozial benachteiligte Familien, aufsuchende Hilfen bei erhöhtem Hilfebedarf und Informationskampagnen vor Ort.
- Begutachtungen von Kindern (0-18 Jahre) im Rahmen der Eingliederungshilfe, Sicherung von Integration und Inklusion, schulärztliche Betreuung von Förderschulen, Inklusionszentren, Zusammenarbeit mit den Schulen bei schulvermeidendem Verhalten.
- Beteiligung an der Sicherung und Umsetzung des Infektionsschutzes, insbesondere in Kindertagesstätten und Schulen.
- Planung, Umsetzung und Begleitung von Prävention u. Gesundheitsförderung in den Settings*, um die Präventionsgesetz vorgesehen Maßnahmen in Kooperation umsetzen zu können.
* SGB V § 20a: „Die Krankenkassen fördern im Zusammenwirken mit dem ÖGD (unbeschadet der Aufgaben anderer) auf der Grundlage von Rahmenvereinbarungen mit Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten insbesondere den Aufbau und die Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen.“
Korrespondenzadresse:
Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V.
Prof. Dr. med. Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär
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