Kommission für Globale Kindergesundheit der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ)
Kommissionsmitglieder: Gabriele Ellsäßer, Christa Kitz, Robin Kobbe, Carsten Krüger (Sprecher, federführend), Thorsten Langer, Werner Schimana, Ralf Weigel
Die Stellungnahme als PDF finden Sie hier.
Konzeptionelle Grundlagen
Um den Begriff der ’globalen Kindergesundheit‘ (’Global Child Health‘) zu präzisieren, ist es sinnvoll, zuerst den Leitbegriff ’globale Gesundheit‘ (’Global Health‘) mit seinen Charakteristika kurz zu erläutern. Den konkreten Anlass zur Entwicklung und Definition dieses Handlungsfeldes hat die Globalisierung der letzten Jahrzehnte gegeben, die mittlerweile umfassend alle Bereiche des menschlichen Lebens, aber auch unseres Planeten bestimmt.
’Global Health‘ hat dabei die Begriffe und Inhalte von ’Public Health‘ und ’International Health‘ weitgehend integriert sowie von ’Tropenmedizin/Tropenpädiatrie‘[A] überwiegend abgelöst.1-5 Der Begriff ‘global‘ beinhaltet sowohl geographische (= weltweit, über Ländergrenzen hinweg) als auch inhaltliche (= universell) Faktoren. Die nachfolgende Definition von globaler Gesundheit (Box 1) nach Koplan et al. (2009) fasst die wesentlichen Aspekte zusammen (eigene sinngemäße Übersetzung):1
Das aktuelle Konzept von globaler Gesundheit und die damit verbundenen Strategien zur Erhaltung von Gesundheit sowie Prävention und Behandlung von Erkrankungen zeichnen sich somit durch drei Charakteristika aus:7
- Die Ursachen sind global relevant und betreffen alle Länder: niedriger Bildungsstatus von Eltern und Kindern, niedriger ökonomischer Status bis hin zu Armut und Hunger, umweltbedingte Risiken wie Klimawandel, Wassermangel oder Naturkatastrophen, Unruhen und Kriege, Flucht und Migration, Traumata und (häusliche) Gewalt, fragile Staatsführung oder wirtschaftliche Interessen.
- Die gesundheitlichen Folgen zeigen globale Ausmaße und betreffen alle Länder und Lebensbereiche wie Bildung, Soziales, Umwelt, Infrastruktur, Wirtschaft, Recht und Politik: sie führen aufgrund sozialer Ungleichheit zu Mangel-/Fehl-/Überernährung, fehlendem Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen, epi- und pandemischen Infektionskrankheiten, chronischen Erkrankungen, beeinträchtigten Entwicklungschancen, Behinderung, Gewalt, oder/und klimabedingten Erkrankungen.
III. Wirksame Interventionsstrategien müssen heute intersektoral, trans- und multidisziplinär global gedacht und global sowie lokal, gemeindeorientiert umgesetzt werden: durch die Globalisierung und enge Vernetzung sind nationale, allein auf den Gesundheitssektor bezogene Strategien nicht mehr hinreichend. Nicht nur Akteure aus Medizin, Gesundheitswissenschaften und Naturwissenschaften müssen einbezogen werden, sondern ebenso aus Gesellschafts-/Sozialwissenschaften, Wirtschaft, Jurisprudenz und Politik. Zugangsbarrieren jeglicher Art müssen abgebaut und primärversorgende Gesundheitsdienste umfassend angeboten werden.
Diese Betrachtungsweise spiegelt sich auch in den nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) wider, bei denen globale Gesundheit und Wohlergehen als Ziel aller Aktivitäten aufgefasst werden können (Abbildung 1).8
Abbildung 1: Gesundheit im Zentrum der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals (SDGs)) (modifiziert nach http://www.who.int/sdg/infographics/en/)
Das Konzept von ’Global Health‘ beinhaltet somit 1) eine sektorenübergreifende Sichtweise auf die vielfältigen Gesundheitsdeterminanten (u.a. politisch, ökonomisch, sozial, medizinisch), bezieht 2) transnational die Ressourcen und Strategien aus Gesellschaften aller Länder ein, um Gesundheitsprobleme anzugehen,1 kombiniert 3) populationsbezogene und individualmedizinische Präventions- und Behandlungsstrategien, beinhaltet 4) auch Elemente von patientenbezogener, biomedizinisch ausgerichteter Medizin, betont 5) das Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut,9 arbeitet 6) auf eine Verringerung der ausgeprägten Ungleichheiten im Gesundheitsbereich hin, und ist 7) deutlich umfassender als die Konzepte von ’International Health‘ und ’Public Health‘ (Tabelle 1).1
Tabelle 1: Unterscheidung der Strukturelemente von globaler, internationaler und öffentlicher Gesundheit (modifiziert nach Koplan et al. 2009)1
Globale Gesundheit (’Global Health‘) |
Internationale Gesundheit (’International Health‘) |
Öffentliche Gesundheit (’Public Health‘) |
|
Geographische Reichweite |
Fokussiert auf Inhalte, die direkt oder indirekt die Gesundheit beeinflussen, aber über nationale Grenzen hinausreichen können |
Fokussiert auf Gesundheitsbereiche anderer Länder (nicht des eigenen), besonders auf Länder mit geringem oder mittleren Einkommen |
Fokussiert auf Inhalte, die direkt oder indirekt die Gesundheit innerhalb einer bestimmten Nation oder Gemeinschaft beeinflussen |
Grad der Kooperation |
Entwicklung und Implementierung von Lösungsansätzen erfordert häufig globale Kooperationen |
Entwicklung und Implementierung von Lösungsansätzen erfordert in der Regel bilaterale Kooperationen |
Entwicklung und Implementierung von Lösungsansätzen erfordert in der Regel keine globale Kooperation |
Individualistischer bzw. populationsbezogener Ansatz |
Umfasst sowohl populationsbezogene Maßnahmen als auch individuelle klinische Behandlung |
Umfasst sowohl populationsbezogene Maßnahmen als auch individuelle klinische Behandlung |
Hauptsächlich auf populationsbezogene Präventionsprogramme fokussiert |
Zugang zu Gesundheits-versorgung |
Gesundheitliche Chancengleichheit zwischen Nationen und für alle Menschen als übergeordnetes Ziel |
Beabsichtigt, Menschen anderer Nationen zu helfen (“Hilfe”-Fokus) |
Gesundheitliche Chancengleichheit innerhalb einer Nation oder Gemeinschaft als übergeordnetes Ziel |
Involvierte Fachbereiche |
Ausgeprägt inter- und multidisziplinär innerhalb und außerhalb des Gesundheitssektors |
Umfasst einige Disziplinen, betont aber nicht die Multidisziplinarität |
Unterstützt multidisziplinäre Ansätze, besonders innerhalb des Gesundheitssektors und mit den Sozialwissenschaften |
Bedeutung von globaler kindergesundheit
Parallel zur Entwicklung des Begriffs ‘globale Gesundheit‘ hat sich in der internationalen Debatte im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin zunehmend der Begriff der ‘globalen Kindergesundheit‘ (’Global Child Health‘) etabliert.10 Dabei sind Spezifika zu beachten, die über ‘Global Health‘ hinausgehen. Es gibt verschiedene Gründe, die speziell die Bedeutung von globaler Kindergesundheit unterstreichen:7,10,11
- Je jünger Kinder und Jugendliche sind, desto vulnerabler sind sie und umso mehr hängt ihr aktuelles Wohlergehen vom Handeln der Erwachsenen ab.
- Soziale Determinanten und Umweltveränderungen beeinflussen ihre Gesundheit dabei erheblich stärker als im Erwachsenenalter, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft.
- Der Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen ist ein guter Indikator für die gesundheitspolitischen Prioritäten der jeweiligen Gesellschaft.
- Ihr gegenwärtiger Gesundheitszustand beeinflusst langfristig ihre zukünftige Gesundheit.
- Mit mehr als 30% stellen sie einen erheblichen Anteil der Weltbevölkerung mit speziellen Bedürfnissen an Sorge, Schutz, Wohlergehen und Gesundheit.
Der Stellenwert von Kinder- und Jugendgesundheit muss sich erhöhen und ein wichtiger Maßstab der globalen Gesundheitsziele werden. Verschiedene Initiativen publizierten kürzlich umfassende Analysen zur gesundheitlichen Situation und Zukunft von Kindern und Jugendlichen weltweit und leiteten daraus grundsätzliche Empfehlungen für die Politik ab. Dazu gehören u.a. der ‘Lancet Countdown on Health and Climate Change‘ und die Publikation der Global Child Health-Kommission der WHO, von UNICEF und des Lancet.7,11,12 Insbesondere aber die Agenda 2030 der UN mit ihren 17 nachhaltigen Entwicklungszielen weist die Richtung. Darin eingeschlossen sind die UN-Forderung nach universeller Gesundheitsversorgung (‘Universal Health Coverage‘) und die auf die Mutter- und Kind-Gesundheit konzentrierte UN-Strategie ‘Every Woman, Every Child‘. Globale Kindergesundheit trägt dazu bei, diese Initiativen und Strategien auf politischer und praktischer Ebene zu verbreiten, zu fördern und umzusetzen.8,13-16 Die SARS-CoV-2-Pandemie gefährdet jedoch das Erreichen dieser Ziele in alarmierender Weise.17
Kinder und Jugendliche müssen, so eine wesentliche Schlussfolgerung, zum Erreichen der gesetzten Nachhaltigkeitsziele in den Fokus gerückt werden (Abbildung 2),18 um die Gesundheit zukünftiger Generationen dauerhaft verbessern zu können.
Abbildung 2: Globale Kindergesundheit nach 2015: Kinder und Jugendliche im Zentrum der SDGs (gemäß der Creative Commons CC BY_Lizenz entnommen aus Alfvén et al. 2019).18
Dabei sind vorrangig fünf Prinzipien zu berücksichtigen: 1) Kinder und Jugendliche müssen selbst als zentrale, wichtige Akteure wahrgenommen werden, 2) weltweite Ungleichheiten müssen beseitigt und kein Kind darf zurückgelassen werden, 3) das kindliche Recht auf Entwicklung in allen Lebensabschnitten muss bedingungslos unterstützt werden, 4) evidenzbasierte Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen müssen konsequent umgesetzt werden und 5) wichtige Pfade und Interaktionen der SDGs müssen identifiziert werden, um möglichst effektive Ergebnisse zu erzielen.18
Aktuell wird deutlich, wie die SARS-CoV-2-Pandemie Kinder und Jugendliche weltweit benachteiligt. Dies stellt neue Herausforderungen an die Weltgemeinschaft, bei ihren Maßnahmen die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen mit einzubeziehen.17,19 Die gerechte Verteilung zukünftiger Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 als ‘Global Public Good‘ entsprechend den Kriterien der COVAX-Initiative werden hierfür ein gutes Beispiel und ein wichtiger Maßstab sein.20
Maßnahmen zur Stärkung der globalen Kindergesundheit sollen den Heranwachsenden in den kommenden Lebensphasen ein sicheres Umfeld verschaffen und ihre gesunde körperliche und geistige Entwicklung fördern, um ihnen ein erfülltes Leben zu ermöglichen.7,21 Hierfür müssen alle Länder und Staaten einbezogen werden, um weltweit auf das universale Recht von Kindern und Jugendlichen auf bestmögliche Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut hinzuarbeiten und eine Verringerung der ausgeprägten Ungleichheiten im Gesundheitsbereich zu erwirken.9 Dieses Vorgehen ist nicht nur die sinnvollste Investition in die Zukunft, sondern hierzu hat sich Deutschland zusammen mit den meisten Staaten bereits 1992 mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes verpflichtet.22
Die DAKJ-Kommission für globale Kindergesundheit engagiert sich dafür, wichtige Themen der globalen Kindergesundheit zu benennen und über einen Diskurs mit Politik, Wissenschaft und Fachgesellschaften voranzubringen, auch in der Lehre und Weiterbildung. Dazu hat die Kommission 2019 ein Diskussionspapier erarbeitet, in dem sie sechs Vorschläge für konkrete Maßnahmen formuliert hat.23 Mit der Unterstützung aller Kinder- und Jugendmediziner und in Zusammenarbeit mit der Zielgruppe könnte das deutsche Engagement für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen über den deutschsprachigen und europäischen Bereich hinaus weltweit erheblich ausgeweitet werden.24,25
Literatur
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- Bozorgmehr K, Bruchhausen W, Hein W, Knipper M, Korte R, Razum O, Tinnemann P. The global health concept of the German government: strengths, weaknesses, and opportunities. Glob Health Action 2014; 7: 23445
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- Watts N, Amann M, Arnell N, Ayeb-Karlsson S, Belesova K, Boykoff M, et al. The 2019 report of The Lancet Countdown on health and climate change: ensuring that the health of a child born today is not defined by a changing climate. Lancet 2019; 394: 1836-1878
- Bhutta ZA, Aimone A, Akhtar S. Climate change and global child health: what can paediatricians do? Arch Dis Child 2019; 104: 417-418
- Primary Health Care on the Road to Universal Health Coverage. 2019 Monitoring Report. Geneva, WHO; 2019
- Boerma T, Eozenou P, Evans D, Evans T, Kieny MP, Wagstaff A. Monitoring progress towards universal health coverage at country and global levels. PLOS Medicine 2014, 11: e1001731
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- Every Woman, Every Child. The Global Strategy for Women’s, Children’s and Adolescents’ Health (2016-2030). New York; UN, 2015
- The WHO–UNICEF–Lancet Commissioners. After COVID-19, a future for the world’s children? Lancet 2020; 396: 298-300
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- Lancet Series: Early Child Development in Developing Countries 2011. http://www.thelancet.com/series/child-development-in-developing-countries-2
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. 5. Auflage, Publikationsversand der Bundesregierung, November 2014
- DAKJ-Kommission für Globale Kindergesundheit (2019) Diskussionspapier: Deutschland und sein Engagement für die Gesundheit der Kinder weltweit (10.01.2019). https://www.dakj.de/wp-content/uploads/2019/01/Globale-Kindergesundheit_Statement_20190108_v5.pdf [Hinweis: Die im Diskussionspapier zum Ausdruck gebrachten Empfehlungen sind die Sichtweise der Autoren und nicht automatisch die Sicht der DAKJ.]
- Williams B, Morrissey B, Goenka A, Magnus D, Allen S. Global child health competencies for paediatricians. Lancet 2014; 384: 1403-5
- Weigel R, Krüger C. Global child health in Germany – Time for action. Glob Health Action 2020; 13: 1829401
[A] Diese Begriffe werden zunehmend verlassen, da sie nicht die Realität der Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern abbilden, sondern eher mit (post-) kolonialen Entwicklungen assoziiert sind.6