Berlin, 21.04.2020. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) nimmt die Europäische Impfwoche 2020 (20.–26. April 2020) zum Anlass, auf aktuelle Aspekte in Deutschland hinzuweisen.
Die aktuelle politische und medizinische Lage ist von dem neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) beherrscht, das die Erkrankung Covid-19 hervorruft mit Fieber, Husten, Atemnot und bei schwerem Verlauf Notwendigkeit der Beatmung und möglicherweise Tod. Die Letalität liegt auch in Deutschland aktuell mit knapp 3% erschreckend hoch (Zahl der Gestorbenen bezogen auf die Zahl der wissentlich Erkrankten). Bei einer Reihe von Grunderkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Lungenerkrankungen kommt der schwere Verlauf bei Erwachsenen häufiger vor, während Kinder weitaus seltener und leichter betroffen sind. Es gibt bisher keine medikamentöse Therapie. Mit der Verfügbarkeit eines Impfstoffes wird nicht vor Ablauf eines Jahres gerechnet. In der Tat steht die erhoffte Impfung ganz oben auf der Tagesordnung politischer Akteure und die aktuelle Strategie der Eindämmung und Verzögerung zielt darauf ab, die Zeit bis zur Einsatzbereitschaft von Impfstoffen zu überbrücken. Nach aktuellem Stand hängt die langfristige Überwindung der aktuellen weltweiten Krise wesentlich davon ab, ob und wann es gelingt wirksame und verträgliche Impfstoffe zu entwickeln.
Durch die Lahmlegung des öffentlichen Lebens kommt es zu einer Verzögerung der zeitgerechten Gabe von Standardimpfungen gemäß STIKO-Empfehlungen, weil Arztbesuche reduziert oder eingestellt wurden, um Ansteckungsmöglichkeiten mit SARS-CoV-2 zu vermindern. Dies ist potentiell gefährlich, weil bereits eine geringe Abnahme des Durchimpfungsgrades gegen Masern oder Keuchhusten zu größeren Ausbrüchen der Erkrankungen führen können. Masern verlaufen nicht selten schwer und mindestens eines von 1000 erkrankten Kindern stirbt. Der Keuchhusten führt zu einem manchmal monatelangen quälenden Husten, der bei Säuglingen zu Mangelernährung, Hirnschäden und Tod führen kann. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin hat deshalb Ärzte und Eltern aufgerufen, Impfungen auch unter den aktuellen Bedingungen fortzuführen, und zwar so organisiert, dass kein zusätzliches Ansteckungsrisiko entsteht. Dies gelingt offensichtlich vielen niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten sehr gut. Die Impfungen gegen Keuchhusten erfolgen im Rahmen der 6-fach-Impfung mit 2, 3 und 4 Monaten, mit 11-15 Monaten sowie zur Einschulung und in der Adoleszenz. Die Impfungen gegen Masern werden als 4-fach-Impfung am besten mit 11 und 15 Monaten verabreicht.
Bedenklich ist auch die niedrige Durchimpfungsrate gegen die Poliomyelitis (ansteckende Kinderlähmung) in einigen Bereichen Deutschlands, z.B. in mehreren Landkreisen Baden-Württembergs mit deutlich unter 80% bei der Schuleingangsuntersuchung. Da das empfängliche Alter für die Erkrankung mit bleibender schlaffer Lähmung und Behinderung oder sogar Tod bereits mit wenigen Monaten beginnt, werden deutsche Kinder zu spät und zu selten gegen die Polio geimpft, so dass Ausbrüche möglich sind. Da in Folge der SARS-CoV-2 Pandemie in mehreren Ländern mit verbliebener Zirkulation von krank machenden Polioviren Impfkampagnen abgesagt wurden, so z.B. in dem stark belasteten Pakistan, besteht die Möglichkeit der erneuten Einschleppung auch nach Deutschland. Entsprechend sollten Eltern darauf drängen, dass ihre Kinder so früh wie möglich gegen Polio geschützt werden, also im Rahmen des 6-fach-Impfstoffs mit 2, 3, 4 und 11-15 Monaten sowie mit 9-17 Jahren als 4-fach-Impfung.
Allgemein empfohlen sind in Deutschland auch 2 Impfungen gegen Viren, die Krebs auslösen können, die Impfungen gegen Humane Papillomviren (HPV; z.B. Gebärmutterhalskrebs, aber auch Krebs bei Männern) und gegen Hepatitis B (Leberkrebs). Die Teilnahme an der Impfung gegen HPV in Deutschland ist mit Durchimpfungsraten bei 40% unzureichend. Eltern sollten darauf achten, dass ihre Kinder vor Beginn sexueller Aktivitäten geimpft werden, weil die Impfung dann am besten schützt. Deshalb soll die HPV Impfung schon im Alter von 9 Jahren zweimal im Abstand von 6 Monaten gegeben werden. Die Impfung gegen Hepatitis B ist Bestandteil der Kombinationsimpfungen im Säuglingsalter und sollte – falls versäumt – baldmöglichst vor Beginn der Pubertät nachgeholt werden.
Weltweit wird das Potential von Impfungen noch nicht so genutzt, wie es möglich wäre und den Kindern gut täte. Ein wichtiges verzögerndes Moment ist die so genannte Impfzögerlichkeit, bei der die Eltern unsicher sind, ob sie ihr Kind impfen lassen sollen oder nicht. Dies ist nicht selten Folge von bewusster Falschinformationen aus unsicheren Quellen, an denen leider sogar Ärzte beteiligt sein können. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin fordert Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen und Behörden auf, Impfhindernisse zu beseitigen und Falschinformationen ihrer Mitglieder zu unterbinden.
Die SARS-CoV-2 Pandemie zeigt die Verletzlichkeit unserer Zivilisation, das Angewiesen-Sein auf den medizinischen Fortschritt und den weltweiten Zusammenhang und die Abhängigkeit unserer Gesundheit von internationaler Gesundheit. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin fordert deshalb die Bundesregierung auf, eine enge Zusammenarbeit in allen gesundheitlichen Fragen mit den europäischen Partnern zu pflegen. Zudem bedauert die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, dass die USA ihre vertraglichen Verpflichtungen zur Beitragszahlung für die Weltgesundheitsorganisation ausgesetzt haben, da dies weltweit koordinierte Massnahmen gegen SARS-CoV-2 und Impfkampagnen gefährdet. Mögliche Kritik ist unter den Bedingungen einer internationalen gesundheitlichen Krise nur durch konstruktive Verbesserungsmaßnahmen sinnvoll.
Impfungen gehören zusammen mit guter Ernährung und hohen Hygiene-Standards einschließlich sauberem Trinkwasser zu den Grundpfeilern des gesunden Aufwachsens der Kinder.
„Impfungen tragen dazu bei, dass aus Kindern gesunde Erwachsene werden“. So lautet eine der Hauptbotschaften der diesjährigen Europäischen Impfwoche. Die aktuelle Pandemie zeigt deutlich, wie wichtig verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung des deutschen Impfsystems sind. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin unterstützt dies seit vielen Jahren.
Pressekontakt: Prof. Dr. med. Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär
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