Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) anlässlich der Anhörung des Innenausschusses am Montag, 12.10.2015, zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz
Viele der Forderungen der kinder- und jugendmedizinischen Mitgliedsgesellschaften und -verbände zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen sind mit diesem Gesetzentwurf erfüllt worden. Dennoch ist die Gleichbehandlung der Flüchtlinge und Asylbewerber in Bezug auf deren medizinische Versorgung durch den vorliegenden Gesetzesentwurf nicht eindeutig garantiert.
Für uns als Pädiater ist wichtig, dass gemäß der UN-Kinderrechtskonvention alle Kinder (also minderjährige Flüchtlinge bis 18 Jahre), die sich in Deutschland aufhalten, mittels Krankenkassenkarte vollen Zugang zur Gesundheitsversorgung gemäß allen Büchern des SGB erhalten, und zwar unabhängig von der Asylgewährung und vom Stand ihres Verfahrens. Dies betrifft insbesondere die derzeit nicht gewährleistete Versorgung chronisch kranker und behinderter Flüchtlingskinder, sowie die Versorgung von Kindern mit psychischen Störungen und Traumata.
Die DAKJ sowie deren kinder- und jugendmedizinische Mitgliedsgesellschaften und –verbände fordern bereits seit längerer Zeit, dass bei der Gestaltung gesetzlicher Maßnahmen und deren Anwendung stets die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) beachtet werden muss.
Artikel 2 der UN-KRK bekräftigt die Achtung der Kinderrechte sowie den Schutz vor Diskriminierung: So stehen die UN-Kinderrechte jedem Kind in Deutschland zu, unabhängig von dessen nationaler, ethnischer oder sozialer Herkunft. Dieser Artikel schützt Kinder vor allen Formen von Diskriminierung oder Bestrafung u.a. wegen des Status seiner Eltern.
Bezüglich der Gesundheitsversorgung heißt es in Artikel 24 Absatz 1 konkret: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.“
Auch der 118. Deutsche Ärztetag 2015 hatte die Bundesregierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, die medizinische Versorgung von Flüchtlingen und insbesondere von Flüchtlingskindern gemäß der eingegangenen Verpflichtung der UN-Kinderrechtskonvention sicherzustellen. Darin wurde bemängelt, dass sich die konkrete Diskriminierung von Flüchtlingen in einem unzureichenden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, zu Bildung und zu sozialer Teilhabe äußere. Dadurch werden Kinderrechte verletzt und die Integration von Kindern und Jugendlichen, die zum Teil sehr lange oder dauerhaft in Deutschland bleiben, wird erschwert.
Die medizinische Grundversorgung sollte zukünftig nur noch auf die Erforderlichkeit der Behandlung abstellen. Eine Differenzierung zwischen akuten Krankheiten und Schmerzzuständen einerseits und chronischen Krankheiten andererseits sollte in diesem Rahmen keine Rolle mehr spielen.
Im Übrigen gilt: Nur durch eine obligate Einführung der elektronischen Krankenversicherungskarte würde ein wesentliches bürokratisches Hindernis beseitigt werden.
Der Gesetzentwurf hat mehr Klarheit bezüglich des Impfens geschaffen.
Wir begrüßen die Feststellung, dass die Flüchtlinge gemäß Empfehlungen der STIKO geimpft werden sollten. Das heißt auch, dass ein nicht vollständiger Impfschutz baldmöglichst nachgeholt werden soll, insbesondere mit Impfungen gegen die hochinfektiösen Windpocken, Lungen- und Hirnhautentzündungen, die sich in Gemeinschaftseinrichtungen rasch ausbreiten können.
Zudem müssen Masern-Ausbrüche in Unterkünften schnellstmöglich durch Riegelungsimpfungen eingedämmt werden. Windpocken- Epidemien in Heimen werden gegenwärtig unverständlicherweise verharmlost. Sie stellen v.a. eine Gefahr für schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder dar und können zu schwerwiegenden Folgekrankheiten bei den durch die Flucht geschwächten Kindern führen. Junge Säuglinge sollten auch gegen Rotavirusinfektionen geschützt und möglichst nicht in Massenunterkünften, sondern in Wohnungen untergebracht werden.
Es bleibt die Frage, ob es genügend Impfstoff geben wird, um dem Bedarf gerecht zu werden. Zurzeit gibt es bereits bei einigen Impfstoffen (Influenza, Masern) Lieferengpässe.
Das wird sich z.B. in der bevorstehenden Grippesaison verdeutlichen. Die voraussichtlich stattfindende Ausbreitung der Influenza in den Gemeinschaftsunterkünften wird zu ganz erheblichen Problemen führen. Dafür ist keine ausreichende Vorsorge getroffen worden. Die Influenza-Impfstoffhersteller müssten für diese Saison wahrscheinlich mehrere Millionen Impfdosen nachproduzieren, damit die Flüchtlinge in vier bis fünf Monaten, wenn die jährliche Influenzawelle zu erwarten ist, noch geimpft werden können.
Natürlich müssen auch die üblichen Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Polio, Pertussis, Hepatitis B und HiB-Infektionen durchgeführt werden, denn diese Erkrankungen könnten unter den schlechten hygienischen Bedingungen in den Massenunterkünften ebenfalls eine große Rolle spielen. Auch bei diesen Impfstoffen gibt es zurzeit Lieferengpässe.
Die Versorgung in den BEA/ LEA/ Asylbewerberwohnheimen wird die deutsche Ärzteschaft erheblich fordern. Sicherlich muss der Personenkreis der medizinischen Versorger erweitert werden wie z.B. durch pensionierte Ärzte, aber auch durch Pflegepersonal und Hebammen. Die Gesetzesvorlage lässt nicht erkennen, dass geeignete Vorbereitungen zu den gesetzlich vorgesehenen Erstuntersuchungen oder zur regulären ärztlichen Versorgung in den Einrichtungen oder Praxen getroffen werden.
Derzeit werden Flüchtlinge vor ihrer Registrierung durch ehrenamtlich tätige Personen wie Pensionäre, Weiterbildungsassistenten aus Kliniken, Kolleg/Innen aus dem Kreis der Asylbewerber etc. medizinisch erstversorgt, die in der Regel keine entsprechende Haftpflicht haben. Wie der rechtliche Rahmen, die haftungsrechtliche Seite und die Bezahlung aller o.g. Fachkräfte geregelt werden soll, ist noch ungeklärt, da eine alleinige Berufserlaubnis nicht genügt. Hier muss also dringend nachgearbeitet werden. Darüber hinaus wäre wichtig, dass das Recht auf einen Dolmetscher (notfalls auch telefonisch) Eingang in den Gesetzentwurf findet.
Weiter notwendig sind der Zugang zu kontrazeptiven Methoden und zur Notfallverhütung für weibliche Jugendliche und Frauen.
Grundsätzlich gewährleistet werden sollte ein verpflichtendes Angebot von Säuglings-, Kleinkinder- und Schulkinderbetreuung bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen bzw. Notunterkünften für Flüchtlinge. Dies kann nicht nur freiwilligen Initiativen überlassen werden. Bitte orientieren Sie sich hierbei an der Stellungnahme des UNHCR zur Umsetzung der EU-Richtlinie über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber.
Ganz grundsätzlich wollen wir zudem festhalten, dass wir eine medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ablehnen, da sie mit medizinisch nicht indizierten Röntgenverfahren und Genitaluntersuchungen verbunden und damit als unethisch abzulehnen ist. Zudem hat diese eine große Fehlerbreite.
Die DAKJ hatte zusammen mit der IPPNW die Konferenz „Best Practice for Young Refugees“ durchgeführt, als deren Ergebnis die „Berliner Erklärung“ unterzeichnet wurde, in der eine medizinische Altersschätzung abgelehnt wird.
Ansonsten möchten wir betonen, dass es grundsätzlich wünschenswert ist, dass Kinder und Jugendliche vorrangig durch Kinder- und Jugendärzte versorgt werden.
Wir bitten Sie, unsere Einwände bei der weiteren Überarbeitung der Gesetzesentwürfe zu beachten.
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